Ab wann brauche ich Hilfsmittel? Und ab wann werden die Kosten hierfür übernommen? Die 30%-Grenze zur offiziellen Sehbehinderung, welche weiter unten im Text noch weiter erklärt wird, kann ein erster Hinweis sein und ist insbesondere für die Ausstellung von Rezepten relevant. Allerdings wissen wir als Verein und Vertretung von Betroffenen, dass die Umstände und Bedarfe bei Nystagmus-Patient:innen ganz unterschiedlich sein können. Gründe hierfür sind z.B.:
- Der Visus kann im Laufe des Tages schwanken, es gibt aber meistens nur eine Messung als Momentaufnahme.
- Kompensierungsmechanismen wie der Nullpunkt1Der Nullpunkt bezeichnet eine Ruhezone, bzw. den Bereich des ruhigsten Sehens, der meistens durch eine Schiefhaltung des Kopfes (Kopfzwangshaltung) erreicht wird. Viele Betroffene haben einen Nullpunkt, aber nicht alle. Bei einzelnen Fällen kommt es auch vor, dass dieser im Alltag immer mal wechselt. funktionieren mal besser, mal schlechter. Der Wahrnehmungsprozess ist bei Nystagmus-Betroffenen an sich komplex, kann beim längeren Fokussieren oder Lesen anstrengend werden und mal besser, mal schlechter funktionieren – dies auch, obwohl Menschen mit angeborenem Nystagmus nicht oszillierend sehen.
- Die Lebensumstände können variieren, sodass man nicht näher heran kann. Zum Beispiel, wenn in den Schulräumen die Tafel zu weit weg ist.
Was mache ich also, wenn ich einfach die kleinere Schrift nicht lange lesen kann, obwohl ich einen Visus über 30% bzw. 0,3 habe? Was mache ich als Schülerin, als Schüler, wenn ich die Schrift an der Tafel in manchen Räumen einfach nicht lesen kann? Natürlich können Hilfsmittel wie elektronische Lupen oder Tafellesegeräte hier auch helfen und jede/r darf sie ausprobieren. Zur Kostenübernahme stehen allerdings noch wichtige Hinweise im Folgenden.
Die medizinischen Richtlinien für Sehbehinderungen
Vereinfacht dargestellt gilt in Deutschland der oder diejenige als sehbehindert, der/die mit Brille oder Kontaktlinsen auf dem besseren Auge oder mit beidäugigem Sehen nicht mehr als maximal 1/3 (0,3 oder 30 %) Visus verfügt.2Darüber spricht man z.B. von Sehbeeinträchtigung allgemein oder auch Sehschwäche. Darunter gibt es weitere Grenzen (ab 1/20 (5 %) ist man hochgradig sehbehindert, ab 1/50 (2 %) gesetzlich blind). Gesichtsfeldeinschränkungen werden zusätzlich berücksichtigt, Nystagmus in der Regel nicht.3Hier ist die Richtlinie der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft von 2011 einsehbar. Es sei noch erwähnt, dass es bei den genannten Visusgrenzen den Zusatz gibt: „oder es liegen Störungen des Sehvermögens von entsprechendem Schweregrad vor.“ Im medizinischen Alltag wird dies allerdings häufig zunächst auf einfacher greifbare, zusätzliche Einschränkungen wie die genannten Gesichtsfeldeinschränkungen bezogen. Diese Richtlinien sind dann wichtig, wenn es um die Ausstellung von Rezepten geht. Wer einen Visus von 0,4 hat, bekommt demnach kein Hilfsmittel auf Rezept, erst wenn der Visus bei 0,3 liegt, also nach den oben genannten Regelungen eine offizielle Sehbehinderung vorliegt.
Allerdings kann man trotzdem – auch bei der Krankenkasse – individuelle Anträge per Brief stellen. Zudem gelten die genannten Visusgrenzen bei Minderjährigen nach Krankenkassenrecht nicht.4 Nachzulesen in Paragraf 33, SGB V Hier ein reales Beispiel einer erwachsenen Patientin aus 2019, für das uns die Unterlagen vorliegen:
Eine junge Patientin mit Nystagmus hat bei der Messung beim Augenarzt (mit Zahlen5 Wir empfehlen die Messung mit Landoltringen, da zwischen der Messung mit Zahlen und der Messung mit Landoltringen in manchen Fällen eine große Diskrepanz liegen kann. Landoltringe sind für Gutachten vorgeschrieben, im alltäglichen Gebrauch verwenden Ärzt:innen allerdings häufig Zahlen. ) beim beidäugigen Sehen einen Visus von 0,5. Sie möchte eine Lesebrille mit leichter Vergrößerung als Hilfsmittel anerkannt bekommen – dies ist grundsätzlich bei einem Visus kleiner/gleich 0,3 möglich. Allein durch die Gläserstärke würde diese Nahbrille von der Kasse nicht übernommen. Die Lesebrille wurde ihr in einer Low-Vision-Beratung empfohlen, da sie abends ihre Sehleistung nicht mehr halten kann und Probleme beim Lesen hat. Der Arzt möchte kein Rezept ausstellen, die Patientin fragt nach einem Privatrezept. Sie reicht dieses zusammen mit einer eigenen detaillierten Erklärung ein, welche man hier nachlesen kann. Der Antrag geht direkt beim ersten Anschreiben durch.
Teilhabe zur Bildung (Eingliederungshilfe)
In der Eingliederungshilfe (z.B. beim örtlichen Sozialamt) zählt ebenso nicht automatisch der Grenzwert von 0,3. Hier zählt der tatsächliche Bedarf in Bezug auf die Barrieren zwischen Individuum und Umwelt und die Grundlagen in SGB IX (Sozialgesetzbuch, Kapitel 9) – nach den Neuerungen im Zuge des Bundesteilhabegesetzes (stufenweise seit 2018, in der Eingliederungshilfe vor allem seit 2020). Einige Regelungen in SGB IX sind recht neu, allerdings gab es auch schon vorher einen Ermessensspielraum und uns liegen reale Beispiel von Anträgen vor, die auch in früheren Jahren durchgingen, ebenso welche, die nicht durchgingen.
Die folgenden Beispiele von Vereinsmitgliedern aus den Jahren vor den Neuerungen werden hier für diesen Text vereinfacht wiedergegeben, einige Unterlagen zu den Fällen sind anonymisiert und verlinkt.
- Fall aus dem Jahr 2009: Mattis hat Nystagmus und eine Sehschärfe von 0,4, er kann die Schrift an der Tafel nicht lesen. Ein Elternteil stellt einen Antrag an das Sozialamt. Das Amt möchte eine ärztliche Stellungnahme und erfragt ebenso eine Stellungnahme der Lehrer:innen, um zu erfahren, ob eine Tafelbildkamera und dazugehöriger Laptop wirklich unerlässlich sind. Der Antrag geht schließlich durch.
- Fall aus dem Jahr 2006: Sophia hat Nystagmus und beginnt ein Studium. Sie kann im Hörsaal trotz eines beidäugigen Visus von 0,5 den Vorlesungen nicht folgen. Sie beantragt einen Laptop und reicht auf eigene Initiative eine amtsärztliche Stellungnahme mit ein. Diese bestätigt, dass sie der Lehre ansonsten nicht folgen kann. Der Antrag geht durch.
- Fall aus dem Jahr 2013: Lena hat Nystagmus und wird von der Beratungsstelle einer Förderschule in der Regelschule begleitet. Sie braucht an der weiterführenden Schule ein Tablet, da die Schrift der Schulbücher recht klein ist und sie die Bücher auf dem Tablet digital aufrufen möchte. Ihre Eltern stellen Anträge bei der Krankenkasse und dem Sozialamt, beides wird abgelehnt und ihre Eltern zahlen privat. Bei Messungen im späteren Alter hat sie an „schlechteren“ Tagen einen Visus deutlich unter 0,5.
Hinweis für die rechtsgewandten Leser:innen:
Zu den Zeiten der Beispiele war noch ein alter Paragraf in SGB XII entscheidend, der als leistungsberichtigte Personen Menschen mit wesentlicher6Die medizinischen Leitlinien sind auch hier nicht unerheblich, da der Begriff „wesentlich“ mit der 0,3 Grenze verbunden ist – diese ist nur lediglich nicht das einzige Maß, auch schon zu früheren Jahren gab es Ermessensräume in der Eingliederungshilfe. Der Begriff „wesentliche Behinderung“ ist nicht gleichzusetzen mit Schwerbehinderung, in Fallbeispiel 1) lag kein GdB (Grad der Behinderung) vor, in Fall 2) hatte die Betroffene bereits beim GdB einen Grad von 50 allein durch zusätzliche Einschränkungen bei Nystagmus durchgebracht, sodass dies sicherlich hilfreich war. oder drohender Behinderung7Ein dehnbarer Begriff, der allerdings meistens fortschreitende Erkrankungen meint. festlegte. Im Zuge der dritten Stufe des Bundesteilhabegesetzes wurde dieser Paragraf 2020 in SGB IX verschoben und ergänzt – mit einem relevanten Absatz: Menschen können leistungsberechtigt sein, wenn sie Beeinträchtigungen haben, „durch die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren in der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft eingeschränkt sind.“
Für Betroffene und Eltern kann es also vermutlich hilfreich sein, sich auf die neue Definition des Behinderungsbegriffs zu beziehen. Die größte Relevanz bei Anträgen scheint eine genaue Beschreibung der Umstände im Alltag sowie der konkreten Auswirkungen von Nystagmus zu haben. Im besten Falle sind solche Stellungnahmen von Ärzt:innen einzuholen, die sich mit Nystagmus auskennen.
Disclaimer: Dieser Artikel ist nicht als Rechtsberatung zu verstehen, diese erhalten Sie ausschließlich bei Jurist:innen. Wir übernehmen grundsätzlich keine Garantie für den Erfolg oder Misserfolg von Anträgen.
Eltern und Mitglieder können sich bei Fragen zu Erstanträgen auch an uns direkt wenden. Im Widerspruchsverfahren sollten Jurist:innen in Anspruch genommen werden.
Hilfreiche Links:
Leistungsberechtigte Personen in der Eingliederungshilfe von Menschen mit Behinderungen nach neuem SGB IX, Paragraf 99: https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_9_2018/__99.html
Umsatzbegleitung zum Bundesteilhabegesetz: https://umsetzungsbegleitung-bthg.de/
Zur Änderung des Behinderungsbegriffs: https://umsetzungsbegleitung-bthg.de/gesetz/aenderungen-im-einzelnen/?hlres=einkommen
Redaktion: Hanna Piepenbring
Fußnoten
- 1Der Nullpunkt bezeichnet eine Ruhezone, bzw. den Bereich des ruhigsten Sehens, der meistens durch eine Schiefhaltung des Kopfes (Kopfzwangshaltung) erreicht wird. Viele Betroffene haben einen Nullpunkt, aber nicht alle. Bei einzelnen Fällen kommt es auch vor, dass dieser im Alltag immer mal wechselt.
- 2Darüber spricht man z.B. von Sehbeeinträchtigung allgemein oder auch Sehschwäche.
- 3Hier ist die Richtlinie der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft von 2011 einsehbar. Es sei noch erwähnt, dass es bei den genannten Visusgrenzen den Zusatz gibt: „oder es liegen Störungen des Sehvermögens von entsprechendem Schweregrad vor.“ Im medizinischen Alltag wird dies allerdings häufig zunächst auf einfacher greifbare, zusätzliche Einschränkungen wie die genannten Gesichtsfeldeinschränkungen bezogen.
- 4Nachzulesen in Paragraf 33, SGB V
- 5Wir empfehlen die Messung mit Landoltringen, da zwischen der Messung mit Zahlen und der Messung mit Landoltringen in manchen Fällen eine große Diskrepanz liegen kann. Landoltringe sind für Gutachten vorgeschrieben, im alltäglichen Gebrauch verwenden Ärzt:innen allerdings häufig Zahlen.
- 6Die medizinischen Leitlinien sind auch hier nicht unerheblich, da der Begriff „wesentlich“ mit der 0,3 Grenze verbunden ist – diese ist nur lediglich nicht das einzige Maß, auch schon zu früheren Jahren gab es Ermessensräume in der Eingliederungshilfe. Der Begriff „wesentliche Behinderung“ ist nicht gleichzusetzen mit Schwerbehinderung, in Fallbeispiel 1) lag kein GdB (Grad der Behinderung) vor, in Fall 2) hatte die Betroffene bereits beim GdB einen Grad von 50 allein durch zusätzliche Einschränkungen bei Nystagmus durchgebracht, sodass dies sicherlich hilfreich war.
- 7Ein dehnbarer Begriff, der allerdings meistens fortschreitende Erkrankungen meint.