Stefanie* hat einen Sohn mit Nystagmus. Sie hat für unseren Verein ihre Erfahrungen mit Ärzten und Frühförderungsangeboten in Nordrhein-Westfalen aufgeschrieben.
Ein kerngesundes Baby?
Unsere Geschichte beginnt im Sommer 2011. Unser erstes Kind wird geboren, ein Junge, etwas zart mit seinen 2800g, aber laut erster Einschätzung im Krankenhaus völlig gesund. Als frischgebackene Eltern haben wir nun alle Hände voll zu tun, und müssen erstmal einen neuen Rhythmus finden. Dass unser Baby etwa ab der dritten Woche seinen Blick stetig hin und her schweifen lässt, halten wir zunächst für normal. Wir hatten ja noch nie ein Neugeborenes, vielleicht machen die das in diesem Alter ja so….
Die Reise beginnt – auf der Suche nach der richtigen Diagnose
Als unser Sohn etwa acht Wochen alt war, fiel mir bei bestimmten Lichtverhältnissen ein seltsamer Schimmer in seinem rechten Auge auf. Der Kinderarzt stellte bei der Untersuchung neben der von mir entdeckten Linsentrübung auch den Nystagmus fest und schickte uns weiter zum Augenarzt. Der war recht besorgt und machte direkt eine Überweisung für die Augenklinik in Dortmund fertig. Natürlich waren wir zu diesem Zeitpunkt auch schon sehr besorgt, und diese Untersuchung gab uns dann den Rest. Der Arzt teilte uns mit, er wisse auch nicht genau, was unser Sohn habe, aber er sei wahrscheinlich blind. Aber das wäre ja gar nicht so schlimm, denn es gäbe ja auch Blinde, die Fahrrad fahren könnten. Dann verabschiedete er sich schnell und ließ uns ratlos zurück. Kein Termin zur Wiedervorstellung, keine Informationen, wo wir Hilfe und Förderung für unser vermeintlich blindes Kind bekommen könnten. Nichts.
Zum Glück war unser heimischer Augenarzt darüber genauso irritiert wie wir und setzte sich dafür ein, dass wir kurzfristig einen Termin in der Uniklinik Münster bekamen. Dort bekamen wir tatsächlich eine detailliertere Diagnose. Unser Sohn war also mit großer Wahrscheinlichkeit auf dem rechten Auge blind. Das gesamte Auge war zu klein, die Linse war trüb, und darüber hinaus gab es Narben und Verwachsungen an der Netzhaut, die vermutlich schon im Mutterleib entstanden waren. Das linke Auge hingegen schien zu funktionieren, obwohl die Sehkraft durch den Nystagmus reduziert war. Weitere Recherche durch den Kinderarzt hat dann ergeben, dass die Fehlbildung am Auge sehr wahrscheinlich durch eine Zytomegalie-Infektion (CMV) im Mutterleib entstanden ist. Völlig unbemerkt, denn die Schwangerschaft verlief gut und ohne feststellbare Komplikationen. Es folgten noch einige weitere Untersuchungen, doch zum Glück war bis auf die Sehkraft alles andere in Ordnung.
Wir brauchen Hilfe – Die Frühförderung beginnt
Meine eigenen Nachforschungen hatten ergeben, dass es eine Frühförderung für sehr kleine Kinder mit Behinderungen gibt, und ich wandte mich daher an die Frühförderstelle unseres Landkreises. Dort erfuhr ich jedoch, dass diese Stelle nicht für Sehbehinderungen zuständig war. Bei uns in Nordrhein-Westfalen fällt die Frühförderung sehbehinderter Kinder nämlich in den Aufgabenbereich der Förderschulen mit Förderschwerpunkt Sehen des LWL (Landschaftsverband Westfalen-Lippe). In unserem Fall war das die Martin-Bartels-Schule in Dortmund.
Ein Anruf hat genügt, und wir bekamen schnell und unbürokratisch Hilfe. Etwa seit unser Sohn vier Monate alt war, kommt einmal wöchentlich eine Lehrkraft dieser Schule und fördert ihn altersgerecht. Zunächst natürlich Zuhause, später dann im Kindergarten und in seiner Grundschule. Im Babyalter ging es erst einmal darum, die visuelle Wahrnehmung anzuregen, mit starken Reizen wie schwarz-weiß Kontrasten, Streifenmustern, leuchtendem Spielzeug (im abgedunkelten Zimmer) und Dingen, die glitzerten. Unserem Sohn schien das auch gut zu gefallen und so übten wir jeden Tag ein kleines bisschen mit ihm. Als er größer wurde, kamen nach und nach auf spielerische Weise auch Übungen für die Feinmotorik hinzu.
Die Förderung im Kindergarten – Gemischte Gefühle
Mit drei Jahren kam unser Sohn in den Kindergarten, und von da an fand auch die Frühförderung einmal wöchentlich im Kindergarten statt. Es kam nach wie vor die gleiche Lehrerin zu ihm, und sie zog sich dann für etwa eine Stunde mit ihm zurück, um spielerische Übungen zu machen. Das klappte auch zunächst sehr gut. Als unser Sohn aber älter wurde und das offene Konzept des Kindergartens gut verinnerlicht hatte („Ich darf selbst bestimmen, was ich machen möchte!“), wurde es immer schwieriger für seine Lehrerin, ihn von seinen Freunden weg zu lotsen und in einem separaten Raum mit ihm zu üben. Seine Abwehrhaltung wurde immer stärker, bis es gegen Ende seiner Kindergartenzeit endlich einen guten Kompromiss gab. Er durfte im Gruppenraum üben und fühlte sich dadurch zumindest nicht mehr so isoliert, auch wenn es vielleicht mal die ein oder andere Ablenkung gab.
Ein Neubeginn – Förderung in der (Regel-)Grundschule
Bei der Wahl der Grundschule haben wir uns aus zwei Gründen für die Regelschule in unserem Stadtteil entschieden: Zum einen wollten wir unserem Sohn ermöglichen, zusammen mit seinen Kindergartenfreunden die Schule zu besuchen. Und zum anderen gefiel uns die Förderschule mit dem Schwerpunkt Sehen nicht so gut. Zu weit entfernt, zu groß, zu ungemütlich. Außerdem erfuhren wir, dass in manchen Jahrgängen nur drei Erstklässler gestartet sind. Und das bei einem sehr großen Einzugsgebiet. Nicht gerade die ideale Grundlage, um Freundschaften zu knüpfen und zu pflegen. Aber würde unser Kind in der Regelschule auch zurechtkommen? Seine Feinmotorik war nicht besonders gut, und wie gut würde er die Schrift in den Büchern und an der Tafel erkennen? Würde er sich im Schulgebäude zurechtfinden?
Bereits gegen Ende des Kindergartens wurde ein AOSF-Gutachten durch die Lehrerin der Sehbehinderten-Schule und die zukünftige Klassenlehrerin erstellt. Aufgrund dieses Gutachtens wurde die weitere Förderung unseres Sohnes bewilligt, und eine andere Lehrerin der Sehbehindertenschule würde im Rahmen des „Gemeinsamen Lernens“ für vier Stunden pro Woche in die Regelschule kommen. Außerdem wurde auch ein Schulbegleiter bewilligt, der unseren Sohn die gesamte Zeit in der Schule unterstützt. Darüber hinaus hat die Krankenkasse einen Lesestein und ein Handmonokular als Hilfsmittel bewilligt. So ausgestattet hat unser Sohn einen wunderbaren Schulstart gehabt und besonders bei der Feinmotorik schon gute Fortschritte erzielt. Da die Förderung des „Gemeinsamen Lernens“ in einer Kleingruppe oder im Klassenraum durchgeführt wurde, fühlte er sich nie isoliert, und es haben sogar auch noch ein paar weitere Schüler mit Problemen bei der Feinmotorik davon profitiert. Die ganze Klasse fand den Schulbegleiter toll und für jedes kleinere Problemchen wurde auch dank der engagierten Klassenlehrerin eine Lösung gefunden.
Jetzt ist unser Sohn schon im zweiten Schuljahr, und hat gerade ein Bildschirmlesegerät von der Krankenkasse bekommen, da die Schrift in den Büchern nun schon kleiner wird und er so auch leichter das Tafelbild erkennen kann. Auch das klappt sehr gut und er geht jeden Tag gerne zur Schule
Und im Alltag?
Unser Sohn hat tatsächlich schnell und problemlos das Laufrad- und Fahrradfahren gelernt. Schwierig sind manchmal Stufen, die er teilweise für tiefer hält als sie tatsächlich sind. Und auch die Feinmotorik bereitet oft noch Probleme, zum Beispiel, wenn es darum geht, den Reißverschluss der Jacke zu schließen oder den Teller in die Spülmaschine zu räumen. Da heißt es üben, üben, üben.
Und auch wir Eltern müssen stetig an uns arbeiten: Natürlich soll er so normal wie möglich aufwachsen und alles machen können, was seine Freunde auch machen. Trotzdem braucht er in manchen Situationen etwas mehr Hilfe als Gleichaltrige. Wir müssen unterstützen, ohne zu überfordern und ohne die Geduld zu verlieren, wenn es nur ganz langsam vorangeht. Und auch Freiheiten lassen und ihm etwas zutrauen, obwohl wir besorgt sind, ob es auch wirklich klappt. Straßen allein zu überqueren ist ein besonders heikler Punkt, der uns momentan viel Kopfzerbrechen bereitet. Aber alleine oder mit ein paar Freunden zum Spielplatz um die Ecke können wir ihn inzwischen schon beruhigt ziehen lassen.
Fortsetzung folgt…
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