65 Jahre mit angeborenem Nystagmus – Die neue Seniorenkolumne von Robert*
Ich bin Robert und habe einen angeborenen Nystagmus, einen sogenannten horizontalen Ruck-Nystagmus nach links, d. h. die Augen bewegen sich auf eine Seite und schnellen mit einem Ruck wieder zurück und das ständig. Verbunden ist das Ganze mit einer leichten Kopfschräghaltung, weil sich beim Blick nach rechts der Nystagmus bei mir leicht beruhigt und beim Blick nach links dieser fast unkontrollierbar wird. Bei starkem Stress erhöht sich die Frequenz und es kommt dann manchmal noch ein Kopfwackeln (englisch: head-nodding, soll es öfters in Verbindung mit Nystagmus geben) hinzu, als wollte der Kopf dem Nystagmus damit entgegenwirken. Hinzu kommt noch eine Kurzsichtigkeit, die inzwischen durch Altersweitsichtigkeit einigermaßen ausgeglichen ist, sowie eine Hornhautverkrümmung. Hört sich alles schlimmer an als es wirklich ist, denn meine Sehstärke ist nicht so stark eingeschränkt, dass es mich im Alltag stark beeinträchtigt.
Ich gehöre zu einer Generation, die noch kein Internet hatte, um zu recherchieren und sich zu informieren. Man war auf die Aussage eines Augenarztes angewiesen, der sich mehr oder weniger mit Nystagmus auskannte. Und eine Brille war damals eher ein Makel und besonders bei Kindern nicht so verbreitet wie heute. Der Junge mit Brille war gerne das Mobbingopfer in der Schule. Vom „Brillen-Heini“ bis zum „kleinen Brillen-Depp“ war alles dabei und sogar die Lehrer wirkten mit. Wenn keiner in der Klasse eine Antwort wusste, dann der Lehrer: „Dann fragen wir doch mal den Professor mit der Brille.“ Ich gehöre zu den geburtenstarken Jahrgängen, es waren 40 Kinder in der Klasse und ich der einzige mit Brille. Heute ist vieles anders. Wenn es das eine oder andere früher schon gegeben hätte, wäre es bei mir vielleicht anders gelaufen. Was ich früher am meisten von meiner Mutter hörte: „Guck gerade“. Aber warum ich beim „Gucken“ den Kopf immer leicht zur Seite drehte, dafür hat sich niemand interessiert. Heute weiß ich, dass es dafür vielleicht eine Operationstechnik (Kestenbaum-OP oder Anderson-OP) gibt, die Augen so einzustellen, dass der ruhigste Punkt in der Mitte liegt und nicht wie bei mir, beim Blick nach rechts. Oder dass es Augenoptiker*innen gibt, die mit Prismengläsern bei dieser Konstellation gute Erfolge erzielen. Meine Mutter hätte nie zugelassen, dass ihr Sohn an den Augen operiert wird, aber vielleicht hätte ich mich mit 18 dafür entschieden. Für mich ist es jetzt aber leider zu spät. Prismengläser hat mein Augenarzt auch erst vor ein paar Jahren mal angesprochen, aber nie in Angriff genommen. Vielleicht hätte auch das funktioniert, meine Kopfhaltung etwas zu korrigieren.
Alles war ich hier schreibe, sind meine ganz persönlichen Erfahrungen und Empfindungen und stimmen vielleicht nicht mit der Schulmedizin überein.
Nystagmus in der Kindheit
Doch zurück zum Anfang: Nach Angaben meiner Mutter verlief die Schwangerschaft und Geburt ohne Komplikationen, auch kein Medikamentenmissbrauch, was als Ursache für Nystagmus damals gemutmaßt wurde. Nystagmus kam in unserer Familie und Verwandtschaft noch nie vor, ist bis heute auch einmalig. Also schleppte man mich schon als Baby zum einzigen Augenarzt in der Kreisstadt. „Kann man nix machen, einfach mal abwarten.“, sagte er. Ich weiß nicht, wie oft dieser Vorgang wiederholt wurde, nur dass ich mit ca. vier Jahren meine erste Brille bekam. Ich sah als Kind absolut keine Vorteile und weigerte mich jahrelang diese zu tragen. Mein Vater ließ jedoch Strenge walten und so musste ich sie besonders an Sonntagen tragen. Ich schämte mich damit. Als meine Tante dann heiratete, wurde ich mit Brille der ganzen Verwandtschaft vorgeführt, der absolute Horror. Damals gab es noch keine Optikerketten, nur ein kostenloses sogenanntes „Kassengestell“ und meine Eltern wollten für eine Brille auch nicht noch Geld ausgeben oder hatten damals keines übrig, schließlich war ein Hausbau geplant. Dieses Kassengestell sollte mich nun meine ganze Schulzeit begleiten.
Ich kam in die erste Klasse, die Brille war für mich immer noch tabu, ich saß in der zweitletzten Bank und hatte keinerlei Schwierigkeiten an der Tafel etwas zu erkennen. So war es auch in der zweiten Klasse und keiner wusste, dass ich überhaupt eine Brille habe oder dass ich schlechter sehe als andere. Nur die Lehrerin stellte fest, dass mit meinen Augen wohl etwas nicht stimmt und meine Mutter wurde einbestellt. Dieses Ritual wiederholte sich über Jahre bei jedem Lehrerwechsel. Irgendwann im Laufe des zweiten Schuljahres – vielleicht angeregt durch die Lehrerin mit hübscher Brille und inzwischen drei, vier brillentragenden Mitschüler*innen – setzte ich eines Tages meine Brille auf und seitdem gehörte sie zu meinem Schulalltag. Ging die Brille mal entzwei, was ein paar Mal passierte, hieß es: Termin beim Augenarzt und Gläser beim Optiker mussten wie immer bestellt werden. So dauerte es oft meist drei bis vier Wochen, bis das alte Kassengestell durch ein neues Kassengestell, das immer noch gleich aussah (oben schwarz, unten transparent – heute ist diese Art hochmodern) ersetzt war. Ich hatte weiterhin nicht das Gefühl, ohne Brille schlechter zu sehen.
Dann kam in der vierten Klasse die Entscheidung zum Schulwechsel. Realschule und Gymnasium gab es nur in der Nachbargemeinde bzw. in der Kreisstadt. Obwohl ich einer der Besten war, hat man entschieden, mich in der Hauptschule zu belassen. Es sollte besser so sein, man wusste ja nicht, wie ich mich mit meiner Augenkrankheit weiterentwickle.
Ich entwarf und zeichnete damals schon gerne Baupläne. Meinen Berufswunsch, Bauzeichner und vielleicht später einmal über den zweiten Bildungsweg Architekt zu werden, machte mir die Berufsberatung allerdings zunichte. Mit dieser Augenkrankheit wäre ich absolut nicht dafür geeignet. Also bewarb ich mich für eine kaufmännische Ausbildungsstelle. Zeugnisse waren gut, es waren damals schriftliche Einstellungstest üblich, ich bekam einen Ausbildungsvertrag, ohne dass ich je ein persönliches Gespräch in der Firma geführt hatte. Ob sie mich auch genommen hätten, wenn sie von meinem Nystagmus gewusst hätten, bezweifle ich heute noch. Meine Ausbildung verlief ohne Probleme, meine Abschlussnote war 1,1 und man bot mir anschließend eine Stelle im Rechnungswesen an. Dafür war ich wohl auch von meiner Art her am besten geeignet. Ich wurde nie auf meine Augen angesprochen, aber Kunden wollte man scheinbar nicht auf mich loslassen. Ich arbeitete nach meiner Lehre noch zwei Jahre in dieser Firma.
Fortsetzungen findest du hier.
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